In diesen Tagen landet in Berlin nahezu jedes Gespräch, das man führt, schon nach wenigen Minuten beim Flüchtlingsthema. Die folgenden Motive spielen dabei eine Rolle:
— Viele einfache Menschen haben Angst. Sie müssen nicht lange rechnen, um zu wissen, dass die Sozialleistungen sich verschlechtern, wenn Millionen ins Land kommen, um sie wahrscheinlich dauerhaft in Anspruch zu nehmen.
— Viele Gutwillige aus den gebildeten Schichten möchten das moralisch Richtige tun und haben Angela Merkel unterstützt, als sie Anfang September die offenen Grenzen noch weiter öffnete. Jetzt, da täglich rund 10 000 Einwanderer aus Nahost und Afrika über die deutschen Grenzen strömen – achtzig Prozent von ihnen junge Männer, die bald ihre Familien nachholen wollen –, breitet sich auch unter den Gutwilligen Sorge aus. So hatten sie sich das nicht vorgestellt. Aber sie trauen sich auch nicht, eine Schliessung der Grenzen zu fordern.
— Die Stimmen aus der Wirtschaft, die nahezu täglich riefen, Deutschland brauche Arbeitskräfte, um seinen Wohlstand zu sichern, sind schweigsamer geworden. Unternehmen wollen ausgebildete Handwerker, IT-Fachkräfte oder Ingenieure. Bis die Neueinwanderer diese in grösserer Zahl stellen können, wird es noch ein bis zwei Generationen dauern.
— Lange hatten Politik und Medien die Berichte über Spannungen und Gewalt in den Aufnahmelagern verschwiegen. Besonders tabu waren der Druck und die Anfeindungen, unter denen viele Christen in den Aufnahmelagern leiden. Jetzt sickern aber mehr und mehr lokale Nachrichten darüber auch in die überregionalen Medien.
— Es lässt sich kaum noch verbergen, dass sich mittlerweile ganze Zeitungsredaktionen über die Richtung der Berichterstattung und das noch tolerable Ausmass der eigenen Propaganda streiten. Noch hält der Propaganda-Damm der Willkommenskultur, der vor allem im deutschen Staatsfernsehen aufgerichtet wurde. Aber es gibt doch immer mehr irritierende Nachrichten, die dazu nicht passen und gleichwohl gesendet werden müssen. Die Blicke der besonders ausgewiesenen Gutmenschen unter den Moderatoren werden gehetzter, ihre Gesten fahriger.
— In der CDU/CSU deutet sich ein Machtkampf über das weitere Vorgehen in der Flüchtlingsfrage an. Der stets zuverlässig opportunistische CSU-Chef Horst Seehofer feuert seit einigen Tagen aus München verbale Breitseiten auf das Berliner Kanzleramt. In der CDU/CSU-Bundestagsfraktion stehen Hinterbänkler auf, die sich seit Jahren nicht zu Wort gemeldet haben, und kritisieren minutenlang die Flüchtlingspolitik. Angela Merkel dagegen schweigt. Sie reist erst zur Uno und unterstützt dort die Nachhaltigkeitsziele für das Jahr 2030, dann reist sie mit einer Wirtschaftsdelegation nach Indien. So wird Normalität vorgeführt.
Dabei war vor wenigen Wochen alles noch so harmonisch gewesen: Als Ende August im sächsischen Heidenau 200 gewalttätige Rechtsradikale die Polizei angriffen, waren sich alle einig. Bundespräsident Gauck sprach in Heidenau unter dem Beifall der Medien vom hellen und dunklen Deutschland und schuf so gleich wieder die Assoziation von Nazideutschland und Holocaust, die auch die hartleibigsten Kritiker angstvoll verstummen lässt. Einen Monat später setzte er in Mainz ganz andere Akzente und sagte: «Wir wollen helfen. Unser Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich [. . .]. Wir wollen in diesem Land keinen religiösen Fanatismus. Gotteskrieger müssen wissen: Der Rechtsstaat duldet keine Gewalt.» Er rief die Staaten und die Europäische Union auf, die äusseren Grenzen zu schützen. «Denn nur so können wir die Kernaufgaben eines staatlichen Gemeinwesens erfüllen: die Aufrechterhaltung der inneren Ordnung und letztlich des inneren Friedens.»
In grosser Hektik brachte die Bundesregierung im September ein Gesetzespaket zur Beschleunigung von Asylverfahren, zur Ausdehnung des Katalogs der sicheren Herkunfts- länder und zur schnellen Abschiebung abgelehnter Bewerber auf den Weg, und der Europäische Rat kündigte ein einheitliches Asylrecht und die Einrichtung von «Hotspots» an den Aussengrenzen der EU an, wo eine Erstprüfung der Schutzbedürftigkeit vorgenommen werden soll. Auch stellte er eine Milliarde Euro für die Flüchtlingslager in Syrien und der Türkei zur Verfügung.
Irrational, unehrlich und erfolglos
So bewegt sich vieles gegenwärtig in die richtige Richtung. Aber es kommt zu spät, zu langsam, in zu geringer Dosierung. Vor allem aber setzt es nicht am grundsätzlichen Problem an, das ich wie folgt umschreibe:
— Achtzig Prozent der Menschen auf der Welt leben in Ländern, deren politische Systeme und gesellschaftliche Verhältnisse grundsätzlich einen Asylanspruch in Deutschland begründen könnten. In diesen Ländern sind auch die wirtschaftlichen Verhältnisse für die Mehrheit der Menschen weitaus schlechter als die Lebenslage eines Sozialhilfeempfängers in Deutschland.
— Sie haben deshalb mehrheitlich einen Anreiz, nach Europa aufzubrechen. Das Asylrecht und der Sozialstaat kommen ihnen dabei entgegen.
— Die Verbesserung der Verhältnisse in diesen Ländern bleibt eine herkulische Aufgabe. Sie kann aber im Wesentlichen nur innerhalb dieser Länder geleistet werden. Was Weltbank, Uno und internationale Entwicklungshilfe seit siebzig Jahren nicht geschafft haben, wird jetzt schon gar nicht kurzfristig möglich sein.
Alle diejenigen, die sagen, man könne die Flüchtlingsströme nur bei ihren heimatlichen Ursachen bekämpfen, alles andere sei sinnlos oder moralisch abzulehnen, plädieren letztlich dafür, die neue Völkerwanderung mehr oder weniger passiv hinzunehmen. Die Konsequenz dieser Haltung wollen sie aber weder vor den Bürgern noch vor den Wählern (und oft wohl nicht einmal vor sich selbst) wahrhaben. Das macht jede darauf beruhende Politik nicht nur irrational und unehrlich, sondern auch erfolglos.
Thilo Sarrazin ist ehemaliger deutscher Bundesbanker und Bestsellerautor. Er schreibt einmal pro Monat exklusiv für die Weltwoche über die deutsche Politik.